90 Jahre Ermächtigungsgesetz – Erinnerung an den parlamentarischen Widerstand
23. März 2023

Demokratie ist kein Selbstläufer und hat keine Ewigkeitsgarantie.

Am heutigen Tag (23. März) jährt sich die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz im Jahr 1933 zum 90. Mal. Die SPD-Fraktion hat aus diesem Anlass eine Aktuelle Debatte im Landtag von Sachsen-Anhalt beantragt.

Es soll aufgezeigt werden, „was Parteien anrichten können, die in Parlamenten mit Rechtsextremisten kollaborieren“.  Nach dem bereits erfolgten unrechtmäßigen Ausschluss der kommunistischen Abgeordneten stimmten nur die 94 sozial-demokratischen Mitglieder des Reichstags gegen das Gesetz, das in der weiteren historischen Perspektive auch der Vorbereitung von Krieg und Völkermord diente.

Otto Wels war es der seine Ablehnung zu dieser Abstimmung mit den Worten begründete: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht. […] Wir Sozialdemokraten sind die einzige Partei, die sich gegen die zerstörerischen Kräfte des Nationalsozialismus stemmt.“

Katja Pähle, Fraktionsvorsitzende betonte, dass die Ereignisse vor neunzig Jahren ein „Lehrstück“ für heute sind. „Wir haben am 29. August 2020 gesehen, wie Rechtsextremisten und Querdenker gegen die Türen des Reichstagsgebäudes in Berlin anrannten. Und wir haben alle noch die Worte des Abgeordneten Büttner im Ohr, der hier am Rednerpult ankündigte, Demonstranten mit Fackeln und Mistgabeln vom Domplatz zu den Büros demokratischer Abgeordneter zu führen. Kurzum: Demokratisch gewählte Parlamente ziehen auch heute die Wut von Diktatoren und Möchtegern-Diktatoren auf sich.“

„Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen: Demokratie ist kein Selbstläufer und hat keine Ewigkeitsgarantie. Sie braucht immer wieder den aktiven Einsatz der Demokratinnen und Demokraten – und hin und wieder den Mut eines Otto Wels“, sagte Pähle am Ende Ihrer Rede im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Die Rede im gesamten Wortlaut:

Rede der SPD-Fraktionsvorsitzenden Katja Pähle zu TOP 3 der Landtagssitzung am 23.3.2023: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“: 90 Jahre Ermächtigungsgesetz – Erinnerung an den parlamentarischen Widerstand gegen die Legitimation der NS-Diktatur

Anrede,

heute auf den Tag genau vor 90 Jahren, am 23. März 1933, kam der am 5. März neu gewählte Reichstag in der Kroll-Oper in Berlin zu seiner zweiten Sitzung zusammen. Das Protokoll verzeichnet als ersten Beratungspunkt – eine Geschäftsordnungsdebatte. Normales parlamentarisches Geschäft am Beginn einer Legislaturperiode, so könnte man meinen.

Aber nichts an dieser Sitzung war parlamentarische Normalität. Sie war der unerreichte Tiefpunkt deutscher Parlamentsgeschichte, weil eine Mehrheit der Abgeordneten den Reichstag als Gesetzgebungsorgan faktisch abschaffte und die Verfassungsordnung der Weimarer Republik endgültig zerstörte.

An diesem Tag diente selbst die Änderung der Geschäftsordnung dazu, den Boden für die ungehinderte Terrorherrschaft der NSDAP zu bereiten.

Schon die Reichstagswahl selbst war nicht wirklich frei. Bereits mit der Machtübergabe an Adolf Hitler am 30. Januar hatte staatlicher Terror gegen alles Oppositionelle begonnen, allen voran gegen Sozialdemokraten und Kommunisten. Durch Notverordnungen – nicht erst nach dem Reichstagsbrand – wurde die Versammlungs- und Pressefreiheit und damit die Möglichkeit zum Wahlkampf stark eingeschränkt.

Doch selbst in diesem Klima von Angst und Verfolgung wurden in den Reichstag

120 sozialdemokratische Abgeordnete gewählt, 81 Kommunistinnen und Kommunisten und 99 Abgeordnete der bürgerlichen Parteien, die in der Weimarer Republik den Verfassungsstaat mitgetragen hatten.

Die NSDAP und ihre deutschnationalen Koalitionspartner hatten im Reichstag zwar eine Mehrheit, die aber weit entfernt war von einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit.

Um die Verfassung zu zerstören, brauchten die Nazis Handlanger.

Als der Reichstag zusammentrat, waren den kommunistischen Abgeordneten bereits illegal die Mandate entzogen worden; viele von ihnen waren verhaftet.

Auch neun sozialdemokratische Abgeordnete waren zu diesem Zeitpunkt bereits inhaftiert. Julius Leber wurde bei dem Versuch verhaftet, die Kroll-Oper zur Reichstagssitzung zu betreten. Leber wurde 1945 als Widerstandskämpfer in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Insgesamt konnten 26 SPD-Abgeordnete aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen nicht an der Sitzung teilnehmen.

Zu den Teilnehmern der Reichstagssitzung gehörte für die SPD Fritz Baade, Absolvent der Landesschule Pforta, Abgeordneter für den Wahlkreis Magdeburg und viele Jahre später Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. Er erinnerte sich 1962 in einem Brief an die Kulisse in der Kroll-Oper:

Die SPD-Abgeordneten hätten beim Betreten des Sitzungssaales den Eindruck bekommen, „dass alles für unsere Ermordung vorbereitet war. Hinter unseren Sitzen stand eine dichte Kette von SS-Leuten, die mit Pistolen bewaffnet war“.

Es brauchte also Mut, um in dieser Reichstagssitzung Nein zu sagen – Nein zur endgültigen Zerstörung der demokratischen Verfassungsordnung durch das Ermächtigungsgesetz.

Aber die 94 anwesenden SPD-Abgeordnete haben am 23. März 1933 bewiesen, dass es sehr wohl möglich war, diesen Mut aufzubringen und der Gewalt zu widerstehen. Sie stimmten geschlossen mit Nein, und sie stimmten als Einzige mit Nein. Möglich wurde das Ermächtigungsgesetz nur durch die Mitwirkung der bürgerlichen Parteien.

Die Weimarer Verfassung sah für verfassungsändernde Gesetze ein doppeltes Quorum vor:

Zwei Drittel der Reichstagsmitglieder mussten anwesend sein, und von denen mussten zwei Drittel zustimmen.

Um das Ermächtigungsgesetz durchzubringen, reichte aber weder der willkürliche Ausschluss der kommunistischen Abgeordneten aus noch die Manipulation der Geschäftsordnung, die an diesem Tag beschlossen wurde:

Auch kranke Abgeordnete und solche, die auf der Flucht vor Verfolgung oder schon im Exil waren, konnten jetzt als „anwesend“ gezählt werden.

Neben dieser Rechtsbeugung brauchten Hitler und Göring aber immer noch Unterstützer, um dem Terrorstaat ein formalrechtliches Mäntelchen umhängen zu können.

Das heißt aber auch:

Am 23. März 1933 hätte jede und jeder einzelne Abgeordnete die Chance gehabt, das scheinparlamentarische Spiel der Nazis mit parlamentarischen Mitteln zu durchkreuzen.

Es war Otto Wels, einer der drei Parteivorsitzenden der SPD, der mit seiner Rede gegen das Ermächtigungsgesetz die Würde des Parlaments hochgehalten hat.

Otto Wels hielt Hitler die Verfassungsgrundsätze und Errungenschaften der Weimarer Republik entgegen:

„Wir haben gleiches Recht für alle und ein soziales Arbeitsrecht geschaffen. Wir haben geholfen, ein Deutschland zu schaffen, in dem nicht nur Fürsten und Baronen, sondern auch Männern aus der Arbeiterklasse der Weg zur Führung des Staates offensteht. (…)

Wir stehen zu den Grundsätzen des Rechtsstaates, der Gleichberechtigung, des sozialen Rechtes (…)

Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus.

Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.

Diese Rede von Otto Wels ist ein bleibendes Dokument des mutigen Einstehens für die Demokratie im Angesicht der Gewalt.

Anrede,

ich will nicht verschweigen, dass es auch im Zentrum und bei den Liberalen Abgeordnete gab, die sich in ihren Fraktionen für eine Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes aussprachen. Aber keiner von ihnen konnte sich durchsetzen, alle haben sich im Reichstag an die Linie ihrer Parteiführungen gehalten.

Aber unser Gewissen, liebe Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete, hat nicht umsonst Verfassungsrang.

Keine Fraktionsdisziplin kann es rechtfertigen, einem Diktator den Freibrief für unbeschränkte Macht auszustellen –

einen Freibrief, der zur Gleichschaltung aller sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kräfte und in letzter Konsequenz auch zu Weltkrieg und Judenvernichtung führte.

Für ihre Standhaftigkeit zahlten die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im NS-Staat einen hohen Preis. Fast alle SPD-Abgeordneten waren schärfster Verfolgung ausgesetzt. Sie wurden verhaftet, ermordet, ins Exil oder in den Selbstmord getrieben. Knapp ein Drittel von ihnen landete im Konzentrationslager.

Ebenso hart waren die Verfolgungsmaßnahmen gegen die kommunistischen Abgeordneten – von denen zudem viele im sowjetischen Exil Opfer stalinistischer „Säuberungen“ wurden.

Anrede,

mit dieser Aktuellen Debatte geht es uns jedoch nicht um „Heldenverehrung“.

Was auf die Reichstagssitzung vom 23. März folgte, war auch kein Heldentum, sondern eine Zeit tiefer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit.

In der SPD gab es einen verzweifelten Richtungsstreit darüber, ob man den Kampf gegen den Nazistaat besser aus dem Exil steuern oder ob man versuchen sollte, im Reich eine legale Opposition aufrechtzuerhalten. Die Frage wurde schließlich durch den Terror der Nazis selbst und durch das SPD-Verbot am 22. Juni 1933 entschieden.

Das alles ist jetzt 90 Jahre her, und doch ist es ein Lehrstück für heute.

Wir alle haben die Bilder amerikanischer Kongressabgeordneter vor Augen, die sich am

  1. Januar 2021 im Kapitol in Washington vor einem fanatischen Mob in Sicherheit bringen mussten, der vom abgewählten Präsidenten Trump zur Besetzung des Parlaments aufgewiegelt worden war.

Wir haben erst vor wenigen Wochen ähnliche Bilder aus Brasilia gesehen, als Anhänger des unterlegenen Präsidenten Parlaments-, Regierungs- und Justizgebäude besetzten.

Wir haben am 29. August 2020 gesehen, wie Rechtsextremisten und Querdenker gegen die Türen des Reichstagsgebäudes in Berlin anrannten.

Und wir haben alle noch die Worte des Abgeordneten Büttner im Ohr, der hier am Rednerpult ankündigte, Demonstranten mit Fackeln und Mistgabeln vom Domplatz zu den Büros demokratischer Abgeordneter zu führen.

Kurzum: Demokratisch gewählte Parlamente ziehen auch heute die Wut von Diktatoren und Möchtegern-Diktatoren auf sich.

Aber es ist nicht nur die Drohung mit nackter Gewalt, die eine Gefahr für die parlamentarische Demokratie darstellt. Gefährlich ist ebenso die Aushöhlung des Verfassungsstaates von innen,

  • wenn sich demokratische Parteien darauf einlassen, mit Rechtsextremisten zu paktieren,
  • oder wenn die Gewaltenteilung und andere rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt werden sollen.

Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen: Demokratie ist kein Selbstläufer und hat keine Ewigkeitsgarantie. Sie braucht immer wieder den aktiven Einsatz der Demokratinnen und Demokraten – und hin und wieder den Mut eines Otto Wels.

Anrede,

ich möchte zum Abschluss Ernst Reuter zitieren, Oberbürgermeister und Reichstagsabgeordneter für Magdeburg und später der Regierende Bürgermeister von West-Berlin.Reuter wurde gleich zweimal ins Konzentrationslager Lichtenburg in Prettin im heutigen Landkreis Wittenberg eingeliefert. Er erinnerte sich später an seine Lagerhaft mit den Worten:

„So wenig ich die Schreie der Geschlagenen in der Nacht vergessen werde, so wenig werde ich aus meiner Erinnerung auslöschen können, wie meine Kameraden aufrecht und ungebrochen vor ihren Peinigern gestanden haben und ihnen immer noch Respekt einflößten, wenn sie auch wehrlos waren.“

Wir verneigen uns vor solchen Vorbildern.

Vielen Dank.