Landtagsdebatte zu Verfassungsjubiläen
23. Mai 2019

Hövelmann: Wir haben eine in ihrer Grundausrichtung menschenfreundliche Verfassung

Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat heute eine Debatte aus Anlass von 70 Jahren Grundgesetz, 100 Jahren Weimarer Reichsverfassung und 100 Jahren Verfassung des Freistaats Anhalt geführt. In der Debatte erklärte der Abgeordnete Holger Hövelmann für die SPD-Fraktion:

Jedes der drei Verfassungsjubiläen, das wir mit dieser Debatte würdigen, wäre eine eigene, ausführliche Rückschau wert. Ich will in chronologischer Reihenfolge beginnen – und freue mich, damit gleich zu Beginn auf die Verfassungstradition meiner Heimatregion Anhalt eingehen zu können. Denn der anhaltische Landtag war ein paar Tage schneller als die Weimarer Nationalversammlung und verabschiedete bereits am 18. Juli 1919 die Verfassung des Freistaates Anhalt, die mit wenigen Änderungen bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme Bestand hatte.

In Anhalt hatten die Landtagswahlen im Dezember 1918 eine Mehrheit der SPD von über 58 Prozent der Stimmen erbracht. Die SPD und die Deutsche Demokratische Partei, die zusammen mit dem Zentrum die „Weimarer Koalition“ der verfassungstreuen Parteien bildeten und auch in Anhalt gemeinsam regierten, hatten in diesem ersten demokratisch gewählten Landtag zusammen 34 von 36 Sitzen. Mit diesen Mehrheitsverhältnissen und unter der Leitung des sozialdemokratischen Landtagspräsidenten Heinrich Pëus wurde die erste demokratische Verfassung auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt geschaffen. Wir sollten uns dieser besonderen Rolle des früheren Landes Anhalt als Teil des heutigen Sachsen-Anhalt bewusst sein.

Im damals preußischen Teil unseres Landes begann die republikanische Verfassungsgeschichte erst mit der Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920.

Diese Schrittfolge in der deutschen Verfassungsgeschichte nach der Novemberrevolution von 1918 ist deshalb bemerkenswert, weil sie zeigt, dass der Übergang von der autoritären Staatsordnung des Kaiserreichs zur demokratischen Republik ein Element des deutschen Staatsaufbaus ganz selbstverständlich mitnahm: den Föderalismus. Es stand überhaupt nicht zur Debatte, dass die einzelnen deutschen Länder weiterhin Staatscharakter hatten und sich in jedem Land das Volk, der von ihm gewählte Landtag beziehungsweise die verfassunggebende Versammlung aus eigener Kraft eine Verfassung geben konnte. Der Zentralstaat – als Bruch mit deutscher Verfassungsgeschichte und Staatstradition – wird erst im NS-Staat und dann wieder in der DDR durchgesetzt, und die Länder verlieren für Jahrzehnte ihre Eigenständigkeit.

Wir wissen, wie die Geschichte weiterging. An die frühe demokratische Tradition in Anhalt schloss sich die für Weimarer Verhältnisse sehr stabile Regierungszeit des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Heinrich Deist an, der mit kurzer Unterbrechung von 1919 bis 1932 regierte.

Aber diese politische Ausgangslage war kein ausreichender Schutz vor der aufkommenden Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten. Bei der Landtagswahl 1932 steigerte sich die NSDAP von 2,1 Prozent bei der vorangegangenen Wahl auf nunmehr 40,9 Prozent. Anhalt wurde das erste deutsche Land mit einem Nazi als Regierungschef.

Demokratische Regeln in der Verfassung reichen eben nicht aus, wenn die demokratische Überzeugung in der Bevölkerung nur schwach ausgeprägt ist und, wie in der Spätphase der Weimarer Republik, der Druck von wirtschaftlicher Krise und Massenarbeitslosigkeit hinzukommt.

Es ist eine Binsenweisheit: Die Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten!

Daran krankte auch die Weimarer Republik als Ganzes. Und doch ist es ungerecht und wird auch den historischen Akteuren nicht gerecht, Weimar zu betrachten als den Übergangszeitraum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur. Weimar war keineswegs angelegt als ein „gescheiterter Staat“. Welchen kulturellen Aufbruch diese Epoche für Deutschland bedeutete, das würdigen wir schließlich in diesem Jahr ganz besonders mit dem Bauhaus-Jubiläum. Die Verbindung des architektonischen und gestalterischen Aufbruchs in die Moderne mit bodenständiger, sozialdemokratischer Stadtentwicklung hat in Dessau ebenso wie in Magdeburg, in Halle und in vielen anderen Städten in Sachsen-Anhalt bis heute sichtbare bauliche Spuren hinterlassen. Die Weimarer Verfassung hatte für diese Politik den sozialstaatlichen Rahmen geschaffen.

Die Weimarer Demokratie ist nicht einfach gescheitert. Sie wurde bewusst zerstört von den Gegnern der Demokratie, deren Feindbild die Republik und ihre Symbole waren, und sie hatten die Unterstützung mächtiger Interessengruppen. Das damalige verächtliche Wort von den „Systemparteien“ meinte dasselbe wie heute „Altparteien“, und der Wortgebrauch verfolgt heute wie damals dieselbe demokratiezerstörerische Absicht.

Die Bundesrepublik Deutschland ist ohne Zweifel stabiler als die Weimarer Republik, und unser Grundgesetz hat im Vergleich zur damaligen Reichsverfassung starke Sicherungsmechanismen und eine sehr gut ausgeprägte Machtbalance zwischen den demokratischen Gewalten, die gerade auch in Auswertung der Schwächen der Weimarer Verfassung entwickelt wurde.

Darüber können wir froh sein, darauf können wir auch ein bisschen stolz sein, aber darauf können wir uns nicht ausruhen! Auch der Staat des Grundgesetzes kann nur so stabil und so sicher sein, wie die demokratische Überzeugung seiner Staatsbürgerinnen und Staatbürger.

Das Grundgesetz entstand vor 70 Jahren als Verfassung des westdeutschen Staates. Die Bürgerinnen und Bürger der späteren DDR hatten keine Möglichkeit, auf die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates und die Erarbeitung dieser Verfassung Einfluss zu nehmen. Und auch 1990, als in Folge der friedlichen Revolution und im Vorfeld der Wiedervereinigung in der DDR durchaus eine lebhafte Debatte über Verfassungsmodelle und demokratische Teilhabe lief, fanden diese Ansätze keinen Niederschlag, weil die Vereinigung als Beitritt nach Artikel 23 organisiert wurde und das Grundgesetz über uns kam, ohne dass ostdeutsche Erfahrungen eingeflossen sind.

Das ist zweifelsohne ein wesentlicher Mangel im Prozess der Deutschen Einheit. Aber: Es ist Geschichte.

Dennoch ist das Grundgesetz zu einem einigenden Band geworden. Das liegt daran, dass es viel mehr ist als nur die „Hauptsatzung“ eines Bundesstaates. Neben dem stabilen Institutionengefüge liegt die Stärke dieser Verfassung darin, dass ihr Wesenskern ein Wertekatalog ist, der eine fundamentale Garantie für die Bürgerinnen und Bürger im Verhältnis zum Staat darstellt. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist – dieser Grundsatz steht im unauflöslichen Widerspruch zu jeder Gewaltherrschaft, zu jeder menschenverachtenden Ideologie, zu Rassismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie.

Wir haben, man kann es so sagen, eine in ihrer Grundausrichtung menschenfreundliche Verfassung.

Deshalb ist es kein Zufall, dass die Gegner der Demokratie, dass alte und neue Nazis, dass insbesondere die sogenannten „Reichsbürger“ aller Schattierungen immer wieder in Zweifel ziehen, dass das Grundgesetz eine vollwertige Verfassung sei, ja dass die Bundesrepublik Deutschland überhaupt ein Staat sei. Ein gelebter Verfassungspatriotismus ist die beste Antwort auf diese verschwörungstheoretischen Verirrungen.

Eine lebendige Verfassung braucht engagierte Bürgerinnen und Bürger. Sie braucht mehr als Zuschauer und Zuschauerinnen, die wie am Spielfeldrand als bessere Fußballtrainer auftreten.

Eine lebendige Verfassung braucht Menschen, die sich einbringen. So wie die vielen Frauen und Männer, die am Sonntag für ein Mandat in einem Ortschaftsrat, einem Gemeinde- oder Stadtrat, einem Kreistag oder auch für das Europäische Parlament kandidieren und damit bereit sind, für die Demokratie Verantwortung zu übernehmen. Vielen Dank an alle Kandidaten und Kandidatinnen!

Das ist gelebte Verfassung. Das ist gelebtes Grundgesetz!

Neben der Werteorientierung und dem Institutionengefüge gibt es ein drittes Element im Grundgesetz, das es zu einer starken und zukunftstauglichen Verfassung macht. Das ist die von Beginn an im Grundgesetz verankerte Orientierung auf die europäische Einigung. Die Verpflichtung des deutschen Staates auf das Mitwirken an der europäischen Einigung war eine der Voraussetzungen dafür, dass Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg begonnen und verschuldet hatte, wieder einen Platz in der Völkergemeinschaft fand. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union ist Teil unserer Verfassungsordnung!

Wir haben allen Grund, stolz auf unsere Verfassungstradition zu sein. Das bringt die heutige Debatte zum Ausdruck. Wir haben aber auch den Auftrag, ja die Verpflichtung, alles zu unternehmen, dass unsere Verfassungstradition eine gute Verfassungszukunft hat. Mit unverrückbaren Menschenrechten, mit starken Bürgerrechten, mit einer funktionierenden Gewaltenteilung. Und mit Parteien, die ihre Verantwortung darin sehen, die Demokratie zu verteidigen.