Der Landtag von Sachsen-Anhalt hat heute auf Antrag der SPD in einer Aktuellen Debatte über das Thema „Das Ende des Niedriglohnlands: qualifizierte Arbeit stärken und gut bezahlen, Einkommensgefälle abbauen“ diskutiert. In seiner Rede sagte der wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Holger Hövelmann:
„Wenn wir als SPD-Landtagsfraktion unsere Beratungen nicht hier im Landtag durchführen, sondern anderswo im Land, dann gehören zu den Begegnungen, die wir vor Ort organisieren, immer auch Unternehmensbesuche und Gespräche mit Wirtschaftsvertretern. Im Februar dieses Jahres waren wir in Staßfurt, in einer traditionsreichen Bergbau- und Industrieregion.
Dass wir dort von Unternehmern die Sorgen zum Fachkräftemangel vorgetragen bekommen haben, hat mich nicht überrascht – diese Klage hören wir derzeit überall. Was mich aber wirklich beeindruckte war, dass die Betriebe berichteten, dass ihnen die besten Leute abgeworben werden – aber nicht von anderen Unternehmen am Ort, sondern von Volkswagen in Wolfsburg. Das sind immerhin knapp 120 Kilometer, je nach Verkehrslage anderthalb Stunden für eine Strecke. Für tägliches Pendeln ist das schon ein ordentliches Pensum, das Menschen hier nicht etwa wegen drohender Arbeitslosigkeit auf sich nehmen, sondern einfach deshalb, weil sie als Facharbeiter im Raum Staßfurt eben deutlich weniger verdienen!
Eine vernünftige Erklärung für dieses Einkommensgefälle gibt es nicht. Im Gegenteil:
- Sachsen-Anhalt hat traditionell gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ihr Geld wert sind – nicht nur, aber ganz besonders im produzierenden Gewerbe und in der Industrie.
- Unsere Betriebe sind längst viel mehr als die berüchtigten verlängerten Werkbänke, sie sind modern und innovativ, viele sind in Europa und auf dem Weltmarkt erfolgreich unterwegs.
- Das heißt: Sachsen-Anhalt und Ostdeutschland als Ganzes tragen mit dazu bei, dass die deutsche Wirtschaft im Moment so gut dasteht.
- Die Unternehmen machen dementsprechende Umsätze und Gewinne – aber bei unseren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern kommt davon nicht genug an.
Es ist nach 28 Jahren deutscher Einheit nicht zu erklären, weshalb ein Industriemechaniker in Wernigerode weniger Lohn bekommt als in Goslar, ein Dachdecker in Salzwedel weniger als in Uelzen, ein Elektriker in Halle weniger als in Göttingen oder eine Arzthelferin in Magdeburg weniger als in der Partnerstadt Braunschweig. Ich nenne nur eine einzige Zahl: Selbst im ‚ärmsten‘ westdeutschen Bundesland Schleswig-Holstein liegt der sogenannten Medianbruttolohn um 500 Euro höher als bei uns. Das ist nicht akzeptabel.
Wir brauchen Einkommens- und Berufsperspektiven für junge Familien, gute Löhne und Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Nur so lohnt es sich, hier zu bleiben, hier eine Familie zu gründen, hier eine Zukunft aufzubauen.
Das große Lohngefälle, meine Damen und Herren, wird der Wirtschaft in unserem Land über kurz oder lang auf die Füße fallen. Denn der Fachkräftemangel ist ja kein Phantom. Er ist für viele Unternehmen schon jetzt ein ernst zu nehmendes Problem. Und Fachkräftemangel kann man nicht nur mit attraktiverer beruflicher Bildung begegnen; Fachkräftemangel ist auch nicht nur durch qualifizierte Zuwanderung in den Griff zu bekommen – all das ist notwendig –, sondern unsere Unternehmen müssen auch darin investieren, dass gut ausgebildete Fachkräfte im Land bleiben und nicht dahin wandern, wo immer noch die besseren Löhne winken. Es gibt also ein deutliches Eigeninteresse der Unternehmen, ihre Beschäftigten anständig zu bezahlen.
Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten geht es hier aber zugleich um eine grundsätzliche Frage der gesellschaftlichen Entwicklung, ja des gesellschaftlichen Zusammenhalts – und nicht zuletzt ist es auch eine Frage der Gerechtigkeit. Was in Deutschland eigentlich der Normalfall ist, nämlich als Arbeitnehmer unbefristet und unter dem Geltungsbereich eines Branchentarifvertrages beschäftigt zu sein, ist bei uns leider immer noch die Ausnahme.
Eine positive wirtschaftliche Entwicklung führt aber nur dann auch zu einem Fortschritt für die ganze Gesellschaft, wenn Produktivitätsgewinne allen zugute kommen können, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht abgehängt werden vom Zugewinn an gesellschaftlichem Reichtum. Und das geht nur, wenn die lange eingeübten Instrumente auch von beiden Seiten, Unternehmern und Arbeitnehmern, Kapital und Arbeit, genutzt werden können:
- Flächentarifverträge, die nicht nur gute Löhne und Gehälter bieten, sondern auch den Zugang zu Weiterbildung für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
- dazu gehören auch Frauenförderpläne, die die Vereinbarkeit von Familie und Beruf möglich machen, Benachteiligungen abbauen und dafür sorgen, dass es endlich gleiches Geld für gleiche Arbeit gibt,
- dazu gehören Betriebsräte, Personalräte und Mitarbeitervertretungen, die eine starke Stimme der Beschäftigten im Betrieb sind und echte Mitbestimmungsrechte haben und
- freier Zugang für die Gewerkschaften zu den Unternehmen, um Interessenvertretung zu organisieren.
Diese Regeln, die in unserem Land leider keine Selbstverständlichkeit sind, sind kein sozialistisches Teufelszeug, sondern grundlegende Elemente einer funktionierenden sozialen Marktwirtschaft.
Es ist nun nicht so, dass es keine positiven Entwicklungen bei den Einkommen gibt. Im Durchschnitt der ostdeutschen Flächenländer werden in Sachsen-Anhalt sogar die höchsten Löhne gezahlt, und der Anstieg ist höher als in Westdeutschland – aber eben auf sehr niedrigem Niveau. Wesentlichen Anteil daran hat allerdings der gesetzliche Mindestlohn, den wir in der vergangenen Wahlperiode des Bundestages durchgesetzt haben.
Und ich begrüße besonders, welche Bedeutung unsere Koalition von CDU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen hier in Sachsen-Anhalt darauf gelegt hat, dass da, wo wir öffentliche Fördermittel einsetzen, auch anständige Löhne gezahlt werden.
Das gilt in ganz besonderer Weise für die frühkindliche Bildung, wo seit 2016 alle Tarifsteigerungen in den Landeszuschüssen abgebildet worden sind, künftige Steigerungen im neuen KiFöG abgesichert werden und der TVöD zur Leitlinie gemacht wird, so dass auch das Gefälle zwischen kommunalen und privaten Trägern abgebaut werden kann.
Das gilt ebenso für den Bereich der öffentlich geförderten Verbände und Vereine, die so in die Lage versetzt werden, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter adäquat zu bezahlen.
Diesen Weg, meine Damen und Herren, müssen wir konsequent weitergehen. Wir müssen Vorbild sein, und in der Haushaltspolitik des Landes muss sichtbar sein: Die Zeiten des Billiglohnlands Sachsen-Anhalt sind vorbei!
Deshalb ist es Zeit, unser Ziel aus dem Koalitionsvertrag mit einer Neufassung des Vergabegesetzes umzusetzen: ‚Wir werden (…) bei öffentlichen Auftragsvergaben die Einhaltung sozialer und tariflicher Standards nach dem Landesvergabegesetz stärker kontrollieren, um Wettbewerbsnachteile für tarifgebundene Unternehmen zu verhindern.‘
Und wir müssen auch den öffentlich geförderten Bereich weiter darauf prüfen, ob wir uns überall an angemessenen Standards orientieren. Erst gestern machten die Harzer Schmalspurbahnen auf erneute Personalsorgen aufmerksam, deren Ursache nicht zuletzt das Lohngefälle zu den Mitbewerbern ist.
Ich möchte noch auf ein Thema zu sprechen kommen, das gestern schon in der Debatte zur beruflichen Bildung eine Rolle gespielt hat und das viel damit zu tun hat, junge Menschen im Land zu halten. Im Koalitionsvertrag des Bundes ist die Einführung einer Mindestausbildungsvergütung vereinbart worden. Ich hoffe, sie kommt schnell, und ich hoffe, sie kommt in einer deutlich spürbaren Höhe. Ich habe in den letzten Tagen als Gegenargument dazu tatsächlich wieder gehört: ‚Das brauchen wir nicht, das regelt der Markt.‘ Das tut er tatsächlich, das tut er nämlich immer. Aber der Markt kommt dann im Zweifelsfall zu dem Ergebnis, dass Branchen in einer ganzen Region keinen Nachwuchs mehr finden.
Es gibt doch wirklich immer noch verbreitet die Auffassung, dass die Abbrecherquote in der Berufsausbildung nichts mit den Ausbildungsvergütungen zu tun hat. So kann man sich zwar der Realität verweigern, Probleme sind durch Ignoranz aber noch nie gelöst worden. Deshalb ist genau der gleiche Weg nötig, wie wir ihn beim Mindestlohn gegangen sind. Und der hat allen Unkenrufen zum Trotz keine Arbeitsplätze gekostet und kein Unternehmen in den Ruin getrieben. Er hat aber vielen Menschen geholfen, eine bessere Bezahlung für ihre oft körperlich schwere Arbeit zu bekommen.“