Unterrichtsversorgung
26. Oktober 2017

Kolb-Janssen: Volksinitiative gibt den Sorgen an den Schulen eine Stimme und dem Protest eine konstruktive Richtung

Die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Angela Kolb-Janssen, hat der Volksinitiative in der heutigen Landtagsdebatte zu ihrem Erfolg gratuliert: „Über 90.000 Unterschriften, davon fast 80.000 gültige – das ist eine gewaltige Zahl. Aber eine Überraschung ist es nicht. Wer im vergangenen Schuljahr an den Schulen unseres Landes unterwegs war der hat die Stimmung dort so angespannt erlebt, wie es das seit den frühen 90er Jahren nicht mehr gab. Kollegien fühlen sich überfordert und in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt, Eltern sorgen sich um steigende Unterrichtsausfälle, und alle zusammen warten auf neue Lehrerinnen und Lehrer, die nicht kommen. In dieser Situation hat die Volksinitiative den Sorgen eine Stimme und dem Protest eine konstruktive Richtung gegeben, und das ist gut so.“

Kolb-Janssen forderte klare Richtungsentscheidungen zugunsten der Schulen in Sachsen-Anhalt: für die Gewinnung von Quer- und Seiteneinsteigern, für mehr Lehrerstellen und für eine Kooperation von Bund und Ländern in der Schulpolitik. Ob eine Unterrichtsversorgung von 103 Prozent erreicht werde, sei der entscheidende Maßstab, an dem sich die Koalition schulpolitisch messen lassen müsse, so die Sprecherin.

Die Rede im Wortlaut:

Was wir heute erleben, ist für ein Parlament eine ganz besondere Erfahrung. Es kommt nun wahrlich nicht alle Tage vor, dass eine Volksinitiative ihr Anliegen vor dem Landtag vorträgt. Ich möchte im Namen der SPD-Landtagsfraktion nicht nur zur erfolgreichen Sammlung der Unterschriften gratulieren, sondern Ihnen, Herr Jaeger, für die Einbringung und die Vorstellung Ihrer Forderungen auch ausdrücklich danken.

Über 90.000 Unterschriften, davon fast 80.000 gültige – das ist eine gewaltige Zahl. Aber, das muss ich auch sagen: Eine Überraschung ist es nicht.

Wer im vergangenen Schuljahr an den Schulen unseres Landes unterwegs war, und die sozialdemokratischen Abgeordneten haben das getan, der hat die Stimmung dort so angespannt erlebt, wie es das seit den frühen 90er Jahren nicht mehr gab. Kollegien fühlen sich überfordert und in ihrer Arbeit nicht wertgeschätzt, Eltern sorgen sich um steigende Unterrichtsausfälle, und alle zusammen warten auf neue Lehrerinnen und Lehrer, die nicht kommen.

In dieser Situation hat die Volksinitiative den Sorgen eine Stimme und dem Protest eine konstruktive Richtung gegeben, und das ist gut so.

Wir betrachten uns als SPD-Fraktion ebenso als Adressaten dieses Protests wie die Landesregierung und das Bildungsministerium. Wir wissen, dass wir in diesem Haus über mehrere Jahre eine Politik mitgetragen haben, die zwar dafür gesorgt hat, dass  Sachsen-Anhalt heute finanziell gut dasteht und seine Konsolidierung vorantreiben kann, die aber bei der Personalausstattung an mehreren Stellen übers Ziel hinausgeschossen ist.

Wir sehen heute: Man darf weder Finanzpolitik noch Bildungspolitik nur an Kennziffern ausrichten. Sie muss sich an den Bedürfnissen von Menschen orientieren. Und die Wirklichkeit hat die Kennziffern Lügen gestraft – durch mehr Geburten und mehr Zuwanderung, aber auch durch neue gesellschaftliche Herausforderungen an Schule und Pädagogik; ich nenne nur das Stichwort Inklusion.

Zu unserer politischen Mitverantwortung als SPD für einen überzogenen Spardruck auf die Schulen und auch auf die Lehrerausbildung stehen wir. Wir nehmen aber für uns in Anspruch, dass wir schon vor der Landtagswahl und dann insbesondere in den Koalitionsverhandlungen auf einen Richtungswechsel hingearbeitet haben. Genau deshalb steht ja eine Unterrichtsversorgung von 103 Prozent in diesem Koalitionsvertrag, und zwar nicht gebunden an eine feste Zahl von Lehrerinnen und Lehrern, sondern ausgerichtet auf die tatsächliche Entwicklung der Schülerzahlen.

Ob diese 103 Prozent erreicht werden, das ist für uns der entscheidende Maßstab, an dem sich die Koalition schulpolitisch messen lassen muss. Technische Parameter wie zum Beispiel „VZÄ-Ziele“ sind Instrumente, die diesem Ziel dienen müssen, nicht umgekehrt.

Wir nehmen auch für uns in Anspruch, seit der Landtagswahl alles daran gesetzt zu haben, um aus dem Parlament heraus die Regierung und hier insbesondere den Bildungsminister dabei zu unterstützen, dass er auch die erforderliche finanzielle Ausstattung für die gemeinsam definierten Ziele erhält. Es ist schade, dass wir diese Hilfe aus dem Parlament dem Bildungsminister immer wieder geradezu aufdrängen mussten, etwa mit unserem Vorstoß für 250 zusätzliche Lehrerstellen bei den Haushaltsberatungen, aus dem dann – nur, aber immerhin – 80 zusätzliche Stellen geworden sind.

Ich habe vor einigen Wochen hier im Hause gesagt, dass die Entwicklung an den Schulen in die falsche Richtung läuft. Ich habe leider bis heute keinen Anlass, das anders zu beurteilen.

Beispiel 1: die bedarfsmindernden Maßnahmen, die nicht die Effizienz gesteigert haben, sondern nur den Belastungsdruck für die Kolleginnen und Kollegen. Die besonders zu Lasten derer gingen, die sich über ihren Fachunterricht hinaus engagieren. Und die es den Schulen noch schwerer machen als bisher, bestimmte Schülerinnen und Schüler besonders zu fördern, Zusatzangebote zu machen und Schulprofile zu entwickeln und zu leben.

Beispiel 2: die Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer. Die Entscheidung, entgegen dem Koalitionsvertrag deren befristete Beschäftigungsverhältnisse nicht zu verlängern, liegt nun zwar schon eine ganze Weile zurück, aber die Schulen spüren die Auswirkungen dieser Entscheidung Tag für Tag – weil die Kinder ja noch da sind, die eine besondere Sprachförderung brauchen, und weil auch immer wieder neue kommen; keineswegs nur aus Flüchtlingsfamilien, sondern im Rahmen ganz normaler Zuwanderung. Dass ihnen dieses pädagogische Angebot wieder genommen wurde, dafür zahlen nicht nur die unmittelbar betroffenen, sondern alle Kinder einen hohen Preis, weil es beim gemeinsamen Lernen zu Verzögerungen kommt, die nicht sein müssten.

Beispiel 3, und das wichtigste: die Neueinstellung von Lehrerinnen und Lehrern zum Beginn dieses Schuljahrs. Die Mitteldeutsche Zeitung hat neulich eine namentlich nicht genannte Abgeordnetenkollegin der CDU mit den Worten zitiert: „Mehr als Lehrerstellen anbieten kann man nicht“ und dazu treffend kommentiert: „Doch, kann man.“ Denn es gibt Beispiele, die zeigen, dass es anders geht und dass andere Länder größere Erfolge haben im Wettstreit um neue Lehrerinnen und Lehrer – Mecklenburg-Vorpommern gehört dazu, Sachsen auch.

Ja, wir wissen, dass das Bildungsministerium sich die Bewerberinnen und Bewerber nicht backen kann und dass die Konkurrenz hart ist, weil eben viele Länder spät dran sind mit der Entscheidung, verstärkt in Bildung zu investieren. Aber wenn andere Länder Erfolge bei der Werbung um diese jungen Lehrerinnen und Lehrer haben, die bei uns ausbleiben, dann muss es auch hausgemachte Probleme geben, und es muss wohl auch Ursachen geben, die man nicht Jens Bullerjahn oder Stephan Dorgerloh anlasten kann.

Minister Tullner hat beim Start der Volksinitiative gesagt, er sehe diese Aktion als „Rückenwind“ an. Das sehe ich genauso, aber die Volksinitiative entfaltet natürlich zugleich Druck auf die Politik, und das soll sie ja auch. Wenn dieser Druck Nutzen bringen soll, wenn aus dem Druck von außen Nachdruck für schulpolitische Vorhaben werden soll, dann sollten alle Beteiligten dafür sorgen, dass der Druck dauerhaft und nachhaltig wirkt. Dafür halte ich einen „Runden Tisch Schulpolitik“ unverändert für das geeignete Instrument, damit aus dem allgemeinen Anliegen der Volksinitiative konkrete Verbesserungen für die Schulen entwickelt werden können.

Solche konkreten Verbesserungen werden wir aber ohne einige klare Richtungsentscheidungen nicht erreichen.

Wir brauchen eine Richtungsentscheidung für die Gewinnung von Quer- und Seiteneinsteigern für den Schuldienst. Ich begrüße ausdrücklich, dass wir mit dem Entwurf für ein verändertes Schulgesetz, den die Landesregierung heute Nachmittag einbringen wird, die Diskussion darüber beginnen, welche Voraussetzungen wir dafür schaffen müssen.

Wir brauchen eine Richtungsentscheidung auch in der Haushaltspolitik. Denn wir werden das Ziel von 103 Prozent Unterrichtsversorgung nicht erreichen ohne mehr Lehrerstellen. Deshalb führt an einer entsprechenden Prioritätensetzung in künftigen Haushalten kein Weg vorbei.

Und wir brauchen auch eine Richtungsentscheidung für die Kooperation von Bund und Ländern in der Bildungspolitik. Die Herausforderungen, die wir bewältigen müssen, sind einfach zu groß, um sie nur auf den Schultern der Länder allein abzuladen. Im Bundesrat liegt seit geraumer Zeit der Antrag des Freistaates Thüringen für eine Aufhebung des Kooperationsverbotes. Ich finde, es wäre ein schönes Zeichen an all die Sondierer und Verhandler im Bund gewesen, wenn sich der Bundesrat bei seiner Sitzung in der kommenden Woche eindeutig für die Aufhebung des Kooperationsverbotes positioniert hätte. Das steht nun noch nicht an, aber ich möchte die Landesregierung nachdrücklich bitten, sich dafür einzusetzen.

Weil es in dieser Woche wieder einige Veröffentlichungen dazu gab, will ich auch noch auf das Thema Lehramtsausbildung eingehen. Es ist richtig, dass wir heute die Weichen für die Ausbildung künftiger Lehrergenerationen stellen müssen. Wir dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, dass wir damit die akuten Probleme der Unterrichtsversorgung lösen können. Wir brauchen zur Feststellung des Bedarfs, der ja auch fach- und schultypbezogen definiert werden muss, endlich belastbare Zahlen der Expertenkommission. Die jüngsten Veröffentlichungen beruhen wieder nur auf vorläufigen Zahlen – wie auch schon bei der Kabinettsentscheidung über die Aufstockung der Kapazitäten zum Wintersemester 2017/18. Ich meine, wir sollten als Landtag deutlich die Erwartung zum Ausdruck bringen, dass wir nun zügig die abschließenden Ergebnisse bekommen.

Es ist ein Jammer: In unseren Schulen sitzen heute Kinder und Jugendliche, die mehr Chancen haben, sich das Wissen der gesamten Menschheit anzueignen, als jede Generation vor ihnen. Die Kids brauchen keine technische Kompetenz für das digitale Lernen – die haben sie fast allen von uns längst voraus –, sondern sie bräuchten Lehrerinnen und Lehrer, die ihr pädagogisches Wissen in der digitalisierten Welt einsetzen können. Machen wir uns nichts vor: Gerade deshalb brauchen wir nicht einfach mehr, sondern vor allem auch jüngere Lehrerinnen und Lehrer. Gerade zur Bewältigung dieser Herausforderung können Quer- und Seiteneinsteiger ein großer Gewinn sein.

„Think big“ müsste deshalb das Motto der Bildungspolitik in Bund und Ländern sein. Kleine, manchmal winzige Schritte sind stattdessen die Realität. Die Volksinitiative macht uns heute deutlich, dass wir so nicht weitermachen können. Deshalb noch einmal: herzlichen Dank!