Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus in Gardelegen:
27. Januar 2016

Rüdiger Erben: Wir sehen tagtäglich, wie wichtig die Erinnerung an die Verbrechen von Diktatur, Raubkrieg und Vernichtungspolitik ist

Der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, Rüdiger Erben, hat bei der heutigen Gedenkfeier für die Opfer des Nationalsozialismus in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen vor Bedrohungen für unsere Demokratie gewarnt. „Wir können nicht schweigen, wenn eine Partei gute Aussichten hat, im März in drei weitere Landtage zu kommen, deren sachsen-anhaltischer Spitzenkandidat von ‚Volksgemeinschaft‘ redet“, so Erben. „‚Volksgemeinschaft‘: Das hieß Unterdrückung nach innen, Aggression und Vernichtung nach außen. Und ‚außen‘, das waren auch die Teile des eigenen Volkes, die für biologisch oder ‚rassisch‘ minderwertig erklärt wurden. Diesen Begriff kann niemand ‚unschuldig‘ verwenden.“ Erben plädierte ausdrücklich für eine „wehrhafte Demokratie“.

 

Die Rede im Wortlaut:

Wir haben uns heute Nachmittag an einem Ort getroffen, der im Zusammenhang mit den Verbrechen der Nationalsozialisten eine besondere Bedeutung erlangt hat.

Kurz vor Ende des 2. Weltkrieges im April 1945 wurden Häftlinge des Konzentrationslagers „Dora“ bei Nordhausen, die zur Zwangsarbeit bei der unterirdischen V-Waffenproduktion eingesetzt waren, von dort und anderen Außenlagern abtransportiert. Sie sollten als „Geheimnisträger“ nicht in die Hände der Alliierten fallen. Fünf dieser Transporte endeten nach der Zerstörung der Bahnlinien im Kreis Gardelegen in Bergfriede, Mieste und Letzlingen. Von diesen Orten begann der Todesmarsch der Häftlinge am 9. und 11. April 1945 nach Gardelegen.

Nach ihrem Halt in Mieste und Letzlingen wurden die Gefangenen zu Fußmärschen gezwungen. Wer entkräftet zu Boden sank oder zu fliehen versuchte, wurde sofort erschossen oder erschlagen. Am 12. April 1945 bekamen die zunächst scheinbar ziellosen Todesmärsche eine Richtung: Gardelegen. Hier wurden über 1.000 Häftlinge in den Pferdeställen der Remonteschule gesammelt.

Auf Befehl des Reichsführers der SS wurden die Häftlinge dann am 13. April 1945 in die abseits gelegene Feldscheune des Gutes Isenschnibbe geführt und diese in Brand gesetzt. 1.016 Menschen verbrannten bei lebendigem Leibe. Aus der Scheune Fliehende wurden erschlagen oder erschossen. Im Verlaufe mehrerer Stunden sollten auf diese Weise alle Gefangenen getötet werden. Als besonders perfide ist festzustellen, dass Teile der Wachmannschaften einzelne Häftlinge erpressten und dazu brachten, auf ihre Mithäftlinge zu schießen, um nicht selbst erschossen zu werden. Nur ganz wenige Menschen haben dieses furchtbare Verbrechen überlebt. Am 14. April 1945 wurden die verkohlten Leichen in Massengräber verscharrt.

Am 14. April 1945 kapitulierte der deutsche Kampfkommandant namens der Garnison und der Stadt Gardelegen. Im Verlaufe des 15. April 1945 wurde die noch brennende Feldscheune von amerikanischen Spähtrupps entdeckt. Auf Befehl des amerikanischen Stadtkommandanten mussten ab dem 21. April 1945 Einwohner von Gardelegen die Toten aus den Massengräbern exhumieren und sie auf einem nach Art amerikanischer Soldatenfriedhöfe angelegten Sonderfriedhof in Einzelgräbern bestatten.

Es ist auch heute nach 71 Jahren nicht einfach, eine Bezeichnung für diejenigen zu finden, die diese furchtbaren Verbrechen an Unschuldigen begangen haben. Nach bisherigen Erkenntnissen war der Hauptverantwortliche der NSDAP-Kreisleiter, der für diese Tat nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Beteiligt waren ferner der Stab der NSDAP-Kreisleitung, die den Transport der Häftlinge bewachende SS, regionale Volkssturmführer sowie Kommandanten der in und um Gardelegen stationierten Wehrmachtseinheiten.

Die Menschen in und um Gardelegen bekennen sich zu ihrer Vergangenheit. Es kann und muss konstatiert werden, dass die Bürgerinnen und Bürger von Gardelegen in ihrer übergroßen Zahl unbeteiligt waren am direkten Verbrechen in der Isenschnibber Feldscheune.

Dies ist die erste Gedenkfeier seit der Übernahme der Gedenkstätte in die Trägerschaft der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt und die letzte vor der Umgestaltung des Geländes und dem Baubeginn für das neue Dokumentationszentrum.

Warum haben wir uns zu diesem Schritt entschlossen, warum nimmt das Land Geld in die Hand für die Schaffung eines neuen Gebäudes, die Entwicklung einer Dauerausstellung und die wissenschaftliche Begleitung?

Es steht dem Land und der von ihm ins Leben gerufenen Stiftung gut an, in der Gedenkstättenarbeit mehr zu leisten als nur das „Bespielen“ der schon vorhandenen Gedenkstätten.

Die Gedenkstätte in Gardelegen hat, gemessen am historischen Stellenwert des hier begangenen Verbrechens, mindestens dieselbe Bedeutung wie andere NS-Gedenkstätten in der Zuständigkeit der Stiftung, aber die Dokumentations- und Arbeitsmöglichkeiten vor Ort sind unzureichend.

Der historische Stellenwert der Todesmärsche, der dabei begangenen Morde und Misshandlungen und schließlich des Massakers in der Feldscheune Isenschnibbe liegt darin, dass in der Endphase des NS-Regimes unter dem Druck der vorrückenden Alliierten das System der Vernichtungslager sowie der „Vernichtung durch Arbeit“ endgültig im Kerngebiet des Deutschen Reiches ankam und für jedermann sichtbar wurde. Entlang der Routen der Todesmärsche, in besonders krasser Form zu studieren am Massenmord von Gardelegen, wurden „gewöhnliche Deutsche“ zu Tätern.

Das sind Erkenntnisse, die Gedenkstättenarbeit und staatliche Erinnerungspolitik nicht ausklammern darf.

Ein weiterer Grund für die Einrichtung eines Gebäudes mit einer modernen wissenschaftlichen Standards genügenden Ausstellung ist das anhaltende internationale Interesse an der Gedenkstätte und am Ehrenfriedhof. Die Opfer aus aller Welt, ihre Angehörigen, Kameraden, Kinder und Enkel haben die Erinnerung an das Verbrechen und an ihre Befreiung stets wachgehalten.

Das internationale Interesse braucht einen Anlaufpunkt, der Aufklärung möglich macht und zugleich die Tradition der Mahn- und Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe und des Gedenkens und der Erinnerungsarbeit vor Ort aufgreift und würdig fortführt. Dafür wünsche ich der Stiftung und ihrem Direktor, dem neuen Gedenkstättenleiter, der Hansestadt Gardelegen und dem Förderverein viel Erfolg.

Die heutige Gedenkfeier findet aber auch in einer politischen Situation statt – national wie international -, die tagtäglich zeigt, wie wichtig die Erinnerung an die Verbrechen von Diktatur, Raubkrieg und Vernichtungspolitik ist.

Ich nenne nur:

  • die Flüchtlinge, die tagtäglich zu uns kommen, weil sie vor Krieg und Terror in ihrer Heimat fliehen mussten;
  • die Angriffe von alten Nazis und neuen Populisten auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte, aber auch auf demokratische Politikerinnen und Politiker, ja „die Politik“ im allgemeinen, auf Presse- und Meinungsfreiheit;
  • das Wiederstarken von Nationalismus überall in Europa und das Wiedererrichten von Grenzen, das zu einem Scheitern Europas führen kann;
  • schließlich den Terrorismus, der die Freiheit nicht nur unserer französischen Nachbarinnen und Nachbarn bedroht und wieder eine mörderische antisemitische Komponente hat.

Wir wenden uns entschieden gegen neue Gefahren von rechts. Wir können nicht schweigen, wenn eine Partei gute Aussichten hat, im März in drei weitere Landtage zu kommen, deren sachsen-anhaltischer Spitzenkandidat von „Volksgemeinschaft“ redet. „Volksgemeinschaft“: Das hieß Unterdrückung nach innen, Aggression und Vernichtung nach außen. Und „außen“, das waren auch die Teile des eigenen Volkes, die für biologisch oder „rassisch“ minderwertig erklärt wurden. Diesen Begriff kann niemand „unschuldig“ verwenden.

Wir hören in diesen Tagen oft den Satz: „Die Demokratie muss das aushalten.“

Aber die Angriffe von rechts, die Gewalttaten und Gewaltdrohungen, die ganze hasserfüllte Propaganda muss kein politisches System „aushalten“, sondern konkrete, betroffene Menschen müssen das aushalten – solange sie es können.

Was die Demokratie ganz bestimmt nicht aushält, ist, wenn sie aufhört, eine wehrhafte Demokratie zu sein. Verfassung und Rechtsordnung, Justiz und Polizei sind dafür da, die Grundfreiheiten, die Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Sie sind die Zähne, die der demokratische Staat gelegentlich zeigen muss, wenn seine Gegner ihn aushebeln wollen.

Beim Eintreten für Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat steht jedoch die Zivilgesellschaft an erster Stelle. Die Gardelegerinnen und Gardeleger haben Mut zur Zivilgesellschaft bewiesen, lange bevor das Wort erfunden wurde. Ihr Beitrag war und ist es, die Pflicht zu erfüllen, die ihre Befreier ihnen 1945 auferlegt haben: die Pflicht zur Gräberpflege. Soviel kommunalen Rückhalt für eine Gedenkstätte würden wir uns überall wünschen.

Besonders erwartungsfroh blicke ich auf die Gedenkfeier in drei Jahren, wenn alles fertig gestellt sein wird. Jetzt bin ich so gespannt wie Sie alle auf die Entwürfe, die im übernächsten Monat vorliegen werden.

Das alles dient dazu, dass die Opfer dieses schrecklichen Verbrechens nicht in Vergessenheit geraten und wir alles tun, dass so etwas nie wieder geschehen kann.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und verneige mich vor den Opfern.